Wunschfahrt zur Vogelinsel

„Simon* (72) wollte unbedingt noch einmal auf ‚seine‘ wunderschöne Vogelinsel. Als Hobbyornithologe war er jährlich ein bis zwei Mal dort, um Vögel zu beobachten.

Selbstständig mit dem Auto und dann zu Fuß über den Steg zur Vogelinsel im Altmühlsee – ganz klar, wie denn sonst? Doch durch seine Tumorerkrankung ist er nun zu geschwächt, um genau so selbständig und selbstverständlich wie noch vor drei Jahren dort hinzukommen. Jetzt braucht er Hilfe.

Alexander und ich trafen uns schon um 5.45 Uhr am Wünschewagen-Standort. Mich hatten ein wunderschöner Sonnenaufgang und Frühnebelfelder belohnt. Es schien, als ob wir einen herrlichen Sommertag bekommen würden. Und auch Alex war trotz der frühen Stunde gut gelaunt. Wir freuten uns darauf, gemeinsam unserem Fahrgast und seiner Frau noch ein paar glückliche Stunden zu schenken.

Also überprüften wir den Wünschewagen, steckten die beiden Rosen, die Alex morgens taufrisch im Garten abgeschnitten hatte, in die Vase und los ging es. Alex las mir auf der Hinfahrt Simons Krankengeschichte vor: Diagnose, Therapiebeginn, OP, Chemo, Palliation. Aktuell befindet er sich im Krankenhaus in Nördlingen auf der Palliativstation. Wenige Schritte zu Fuß schafft er noch, ansonsten ist er auf den Rollstuhl angewiesen. In Nördlingen freute sich das Pflegepersonal schon auf uns, Simon wirkte eher nervös. ‚Ich weiß gar nicht, ob ich das alles heute schaffe.‘ Tja, das wussten Alex und ich natürlich auch noch nicht…

Mit unserem Fahrgast, Ersatzklamotten und einer Tüte voller Medizin fuhren wir zum Bahnhof, um die Ehefrau abzuholen, die von ihrem Zuhause mit dem Zug nach Nördlingen gereist war. Sie wirkte so gar nicht nervös, begrüßte uns herzlich, stieg hinten zu ihrem Mann und mir ein und Alex lenkte den Wünschewagen in Richtung Muhr am See. Simons Frau erzählte ihrem Mann die aktuellen Neuigkeiten aus der Nachbarschaft und richtete ihm Grüße aus. Dann wurde sie still. Sie ergriff seine Hand, musste weinen. Ich glaube, das war wieder so ein Moment, in dem bewusst geworden ist, dass es der LETZTE Wunsch ist und dass es danach vielleicht bald vorbei sein wird… Dann entdeckten wir die ersten Störche links und rechts der Straße und die Ehefrau trocknete die Tränchen. Die Hand ihres Mannes ließ sie aber bis zum Parkplatz nicht mehr los.

In Muhr war es bereits ziemlich warm. Also wurde der Schirm hervorgeholt und am Rollstuhl befestigt (wenigstens ein bisschen Schatten). Simon stieg in den Rollstuhl um, seine Frau ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst zu schieben. Alex und ich gewährten den beiden ihre Zweisamkeit, gesellten uns aber an der Plattform unterhalb des Aussichtsturmes doch dazu und ließen uns die Vogelnamen erklären. Durch das Fernglas zeigte mir unser Fahrgast meine erste Rohrdommel.

Der Zaunkönig zeigte sich zwar nicht, sang jedoch wunderschön. Nicht, dass ich seinen Gesang erkannt hätte – Simon machte uns drauf aufmerksam. Er war in seinem Element. Wir drehten gemütlich die Runde um die Insel, legten Stopps ein, suchten Vögel, beobachteten sie und lauschten. Simon genoss es und seine Frau war glücklich, ihn so zu sehen.

Nach der Inselrunde waren wir hungrig. Unser Fahrgast kannte noch ein Landgasthaus in Muhr, in dem er immer nach der Inselrunde gegessen hatte. Wir riefen dort an, erfuhren, dass offen sei und reservierten gleich einen Tisch. Beim Essen wurde über alles Mögliche geplaudert und auch gelacht.

Für die Heimfahrt meinte Simons Ehefrau, dass ich mich ruhig vorne neben meinen Kollegen setzen könne. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, den Alex und ich sofort verstanden. Noch einmal eine knappe Stunde Zweisamkeit waren gewünscht. Dieser Wunsch wurde natürlich erfüllt. Fotos ausdrucken mit dem Fotodrucker klappt nämlich auch vom Beifahrersitz aus.

Wieder zurück in Nördlingen, brachten wir Simon auf sein Zimmer - trotz aller Bedenken hatte er den Tag gut durchgehalten. Wir überreichten ihm, kaum hatte er sich auf sein Bett niedergesetzt, das Fotoalbum. Dass er eines bekommen würde, hatte Simon bereits im Vorfeld vom Pflegepersonal erfahren. Und dass er die Fotos im Album allen zeigen müsse, weil doch alle Pfleger und Pflegerinnen mitfiebern und wissen wollen, wie die Wunschfahrt war, das wusste er auch. Alex übergab die Rosen, die unser Fahrgast aber prompt an seine Ehefrau weiterreichte. Wir verabschiedeten uns und versprachen ihm, seine Frau sicher zum Bahnhof zu bringen.

Eigentlich will ich ja gar nichts von solchen Wunschfahrten für mich erwarten, um mich geht es ja nicht. Ich will nur immer das Beste geben und dazu beitragen, dass einem Fahrgast und auch seinen Angehörigen oder Freunden ein letzter Wunsch erfüllt werden kann. Nach vielen Mühen der Koordinatorinnen, Telefonaten, organisatorischen Hürden schließlich den Fahrgast abholen und sich ein paar Stunden lang kümmern, im Hintergrund bleiben (wenn möglich), zur Stelle sein (wenn nötig), manchmal Muskelkraft einsetzen, unvorhergesehene Probleme lösen…

Aber irgendwie hofft man dann doch immer, dass auch wir Wunscherfüller:innen am Abend erfüllt sind und nicht nur erschöpft. Bei dieser Fahrt war es so: Alex und ich waren nicht nur sehr zufrieden, sondern auch selbst erfüllt. Glücklicherweise hatte auch diesmal alles wunderbar geklappt, das Ehepaar war herzlich, unkompliziert und dankbar, die Vogelinsel ein Traum, das Wetter hat mitgespielt, das Essen lecker geschmeckt. Simon war glücklich.

Und auch, wenn er vielleicht nicht mehr viel Zeit haben wird, um sich noch oft an diesen Tag zurückzuerinnern, wird seine Frau hoffentlich nach seinem Tod einen Teil ihres Trostes in diesem Tag finden. Wissend, dass es diesen Tag gab, den sie gemeinsam mit ihrem Mann verbringen durfte und an dem er glücklich bei ‚seinen‘ Vögeln auf ‚seiner‘ Insel war.“

Ein Bericht von Ines, Wunscherfüllerin aus dem Allgäu.

*Name geändert